Warum der Dalai Lama alle für sich einnimmt
Sonntag, 25. September 2011, 01:59
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Streicheln, Witze machen, reden: Der Dalai Lama trifft in Hessen viele Deutsche und begeistert sie. Denn er hat eine ganz besondere Fähigkeit.Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, ist es gewohnt, dass die Menschen beseelt strahlen, wenn er in ihr Gesicht schaut. Oder anfangen zu weinen. Oder rufen: „Er hat mich berührt.“ Doch nichts von dieser Begeisterung ist in den Gesichtern der Kinder zu lesen, die Seine Heiligkeit, wie er gerufen wird, an diesem Morgen in der Blindenschule in Friedberg trifft.Und so arbeitet es auch in dem spirituellen Führer der Tibeter. Was kann er tun? Janina versucht er mit lustiger Mimik aufzuhellen – dieser 76-jährige Mönch, der immer einen Scherz parat hat und so herzhaft lachen kann. Aber dann erkennt er, dass Janina trotz einer Brille mit dicken Gläsern fast gar nichts sehen kann.Als er erfährt, dass die 19-Jährige weder schreiben, noch lesen, noch sprechen könne, wird sein Gesicht ernst. Er bückt sich zu Marco runter, einem kleinen13-jährigen Jungen mit schwarzen Haar, der im Rollstuhl sitzt. „Er kann auch nicht kommunizieren?“, fragt der Dalai Lama. Der Junge antwortet auf seine Art. Marco schreit laut, was den hohen Besucher verwundert und besorgt dreinschauen lässt. „Hat er Schmerzen?“, fragt er. Nur Jonathan, der seinen Oberkörper vor und zurückwippt, signalisiert mit einem Lächeln, dass er sich freut. Der Dalai Lama reicht ihm die Hand, der Junge lässt sie kurz liegen und zieht sie dann langsam zurück.Später, auf dem Weg zu den gesünderen Kindern der Johann-Peter-Schäfer-Schule, die vorn auf dem Schulhof warten, sagt der Dalai Lama Schulleiter Dieter Bretz: „Ich bin sehr, sehr traurig und berührt.“Der Besuch in der hessischen Blindenschule geht auf eine spontane Idee zurück. Es war im Sommer 2009, als ich den Dalai Lama in seinem Exil im indischen Dharamsala interviewte. Eigentlich ging es um die schwere Finanzkrise, Moral und Ethik in der Wirtschaft. Aber das Gespräch wurde zeitweise sehr persönlich. Wir redeten auch über meinen kranken Sohn Philip, der die Blindenschule besucht.Ich erzählte dem Dalai Lama, wie sehr mir seine Worte und Lehren dabei geholfen hätten, auch durch schwierige Zeiten zu kommen, die Eltern behinderter Kinder zwangsläufig durchleben. Er schloss die Augen. Und sagte dann, dass er beim nächsten Besuch die Blindenschule besuchen werde.Dass es wirklich dazu kommen würde, hatte ich nicht geglaubt. Bis der Europa-Gesandte des Dalai Lama, Tseten Chhoekyapa, sich auf einmal im Frühjahr meldete: „Seine Heiligkeit kann im August kommen.“ Seither ist die Schule mit ihren fast 300 seh- und zum Teil schwerstbehinderten Schülern im Ausnahmezustand. „Wir bekommen auf einmal ganz anderen Zuspruch und Wertschätzung“, sagt Schulleiter Bretz, ein hochgewachsener Mann mit weißem Bart. „Das ist schön. Aber wir haben doch schon vorher gute Arbeit geleistet.“Wenn dieser tibetische Mönch kommt, ist alles anders. Drei Tage begleite ich ihn bei seinem Besuch in Hessen – als Mitglied der Delegation bin ich bei fast immer dabei. Beim Mittagessen im Kloster Seligenstadt mit Landesministern und den Vorsitzenden aller Fraktionen des hessischen Landtags. Bei seinem Auftritt in der Frankfurter Goethe-Universität. Auf Fahrten durch Hessen, in einem der zehn Autos des Konvois, eskortiert von 20 Motorrädern. Es ist ein gigantischer Aufwand für einen Staatsgast, der gar keinen Staat mehr hat.Es ist in manchen Momenten wie beim Auftritt einer beliebten Boygroup. Wie am ersten Tag im Kloster Seligenstadt. Ob Mädchen oder ältere Frauen – sie alle haben sich Stunden zuvor hinter die Absperrungen gedrängt. Als der Dalai Lama vorne vom Beifahrersitz aus der gepanzerten silbernen Limousine steigt, braust Jubel auf. Frauen brechen in Tränen aus, einige zittern am ganzen Leib, nachdem sie dieser eher kleine Mönch mit Watschelgang zärtlich über den Kopf oder die Wange gestrichen hat.Andere Zuhörer, andere Situation: 80 geladene Gäste – Intellektuelle, Schauspieler, Sozialarbeiter – sind am Morgen des zweiten Tages im Nassauer Hof in Wiesbaden zusammen gekommen. Beruhigende Musik, wie in Wellness-Zonen üblich, säuselt durch die Lautsprecher, der Dalai Lama meditiert mit den Gästen. „Denkt an die Menschen, die ihr liebt, schließt sie in euer Herz. Denkt an die hungernden Kinder in Afrika.“ Stille. Nur noch Musik und der Atem des Nachbarn sind zu hören. „Oder denkt an Euro und Dollar!“, sagt Seine Heiligkeit plötzlich und kichert spitzbübig.Das spirituelle Oberhaupt der Tibeter schafft es so gut wie immer, die Menschen für sich zu gewinnen. Er sagt einfache Worte in schlechtem Englisch – sie wirken vielleicht gerade deshalb so nach, weil sie nicht der Feder eines kalkulierten Redenschreibers entsprungen sind und auch keine PR-Maschine dahinter steht. Nie hat er ein Manuskript bei sich, meist redet er spontan, inspiriert durch die Eindrücke, die er gerade aufgenommen hat.Dieser Mönch, der stets eine gelb-violette Kutte, unmodische Schuhe und ein klobiges Brillengestell trägt, verkörpert das, wonach sich viele Menschen in unserer Welt des Konsums und des Scheins sehnen: Echtheit, Bescheidenheit, Ehrlichkeit. Er begrüßt die 20 Motorradfahrer, die ihn eskortieren, jeden einzelnen und stellt sich dann mit ihnen zum Foto auf. Und er verabschiedet sich von jedem Leibwächter, als er nach drei Tagen in den Lufthansa-Flieger nach Indien steigt.Sein Lebensprinzip, das hat er in vielen buddhistischen Vorlesungen gesagt, ist ein Satz des Philosophen Shantideva aus dem 8. Jahrhundert: „Solange der unermessliche Raum Bestand hat und solange noch empfindende Wesen da sind, möge auch ich ausharren, um das Elend der Welt zu verringern.“Ich warte die drei Tage darauf, dass der Dalai Lama irgendwann einmal aus dieser Rolle fällt. Dass er Haltung verliert. Dass er ein anderes Gesicht zeigt. Doch Fehlanzeige: Er hat zwar Formschwankungen, er wird manchmal etwas vehementer wie im Gespräch mit den Exilchinesen – nie aber verliert er die Fassung und seinen Humor, immer geht er geradewegs auf Menschen zu. Was seine Leibwächter an ihre Grenzen bringt: „Das lässt sich nicht mehr kontrollieren“, stöhnt ein Personenschützer, als Ministerpräsident Volker Bouffier gemeinsam mit dem Dalai Lama durch die Wiesbadener Innenstadt marschiert.Ein eingespieltes Team aus drei Mönchen, zwei Sekretären, drei Gesandten und mehreren Leibwächter zusätzlich zu denen, die die hessische Landesregierung stellt, sie alle sorgen dafür, dass der Dalai Lama maximale Wirkung entfalten kann. Und dass er gleichzeitig abgeschirmt wird. Selten war ich einem Menschen physisch so nahe und habe mich gleichzeitig so weit weg gefühlt wie in den ersten zwei Tagen der Reise. Fast nie ist er allein, fast nie spontan ansprechbar.Einmal in seiner gepanzerten Limousine mitfahren? „Nein, geht nicht“, sagt mir der Europa-Gesandte Chhoekyapa kurz und knapp. „Er braucht die Ruhe vor dem nächsten Termin.“ Ein kurzes Interview führen? „Nein, dafür ist keine Zeit.“Ab und zu winkt der Dalai Lama mir zu oder drückt meine Hand, aber er sagt kein Wort. Erst am Tag vor dem Besuch in der Blindenschule, auf dem Flur im Hotel nach der Rede im Hessischen Landtag, nimmt er auf einmal meine Hand, drückt sie und sagt: „Morgen ist Dein Tag.“ Und verschwindet er ohne ein weiteres Wort hinter der Tür von Suite 105 in der ersten Etage, um eine kleine Pause zu machen.Der Dalai Lama konzentriert sich auf die eine Sache, die er gerade tut. Auf nicht weniger. Aber auch nicht mehr. Er lebt, was einfach und einleuchtend klingt, aber sehr schwierig umzusetzen ist. Im Alter von zwei Jahren, 1937, haben ihn tibetische Mönche als die Wiedergeburt des 13. Dalai Lamas identifiziert und in den gigantischen Potala-Palast in der tibetischen Hauptstadt Lhasa gebracht. Seither haben sie ihn geschult, in Meditation, in der buddhistischen Lehre – erst mit Zwang, dann, so ab dem 13. Lebensjahr, wie er selber sagt, zunehmend über die eigene Erkenntnis.Diese Fähigkeit zur Konzentration, zur bedingungslosen Aufmerksamkeit erscheint somit wie angeboren – trotz seiner 76 Jahre. Kommt der Dalai Lama in einen Raum, dann tut er sofort etwas, damit sich die Menschen wohler fühlen. Er streichelt sie, macht einen Witz, hilft. Das ist vermutlich eines der Phänomene, die Menschen an ihm so sehr faszinieren und bewundern: Er ist immer ganz und gar bei ihnen. Wenn sie denn gerade dran sind.Das Pensum ist gigantisch, das er im hohen Rentenalter absolviert. Wie jeden Morgen steht er auch an diesem Dienstag in Wiesbaden um 3.30 Uhr auf, nach acht Stunden Schlaf. „Guter Schlaf – sehr wichtig“, sagt er gern. Dann meditiert er, macht ein wenig Sport, um 5.30 Uhr gibt es Frühstück und er hört sich die Nachrichten auf BBC an. Dann wieder Meditation.Als er um 9.00 Uhr den ersten offiziellen Termin hat, ist es für ihn eigentlich schon Mittag. Formschwankungen sind da unumgänglich, Wiederholungen ebenfalls. Zwei Diskussionsrunden am Morgen, dann der Spaziergang vom Hotel zum Landtag, wo er seine Rede hält. Und schließlich, immer noch in brütender Hitze, eine Ansprache vor 300 Menschen in einer Villa. Und überall stehende Ovationen.Ein tibetischer Mönch, der die ersten 25 Jahre seines Lebens meist isoliert in einem Palast in den tibetischen Bergen verbracht hat, dann ins Exil nach Indien fliehen musste, demonstriert vor einem deutschen Parlament, wie weit der Weg ist, den er gekommen ist: „Die Welt gehört den Menschen und nicht Königen, religiösen Führern oder ähnlichen Machthabern.“Stolz ist er, dass er nach fast 400 Jahren eine alte tibetische Tradition beendet und seine weltliche Macht an einen jungen, von Exiltibetern demokratisch gewählten Regierungschef abgegeben hat. Ja, die Chinesen würden ihn als Dämon bezeichnen: „Aber ich denke, der Dämon hat in Sachen Demokratie mehr geleistet als die chinesische Regierung.“Der frühere Ministerpräsident Roland Koch hat sein Engagement für Tibet einmal so begründet: „Was für eine Botschaft würden wir kommenden Generationen hinterlassen, wenn ausgerechnet dasjenige Volk auf der Strecke bliebe, welches als einziges friedlich geblieben ist?“ Eine Haltung, die heute in Hessen fraktionsübergreifend gilt.Manchmal erscheint aber auch alles zu einfach. Der Besuch in Hessen ist ein Heimspiel für den Dalai Lama, jeder Termin geht so mühelos. Aber es wirkt nur so, wie ich am dritten Tag seiner Reise in Friedberg spüre. Es kostet den Dalai Lama Kraft, sich immer wieder auf die neuen Situationen einzustellen, meist agiert er tatsächlich spontan.Schnell begreift er das weite Spektrum an Behinderungen, die er unter den Kindern in Friedberg antrifft. Und schafft es, in wenigen Minuten viele Menschen anzusprechen, manche zu Tränen zu rühren: „Ich bin besonders beeindruckt und berührt von der Arbeit derjenigen unter euch, die sich um diese Kinder sorgen. Bitte macht weiter mit dieser guten Arbeit“, sagt er. Er habe seinen Geist und seinen Körper ja sehr geschult. „Aber ich weiß nicht, ob meine Kraft reichen würde, das so wie Ihr zu tun.“Dann spricht er die gesünderen Schüler an: „Ihr sollt immer denken: Ich werde es schaffen. Habt Selbstvertrauen. Ihr habt ein kleines Problem mit den Augen – aber gute Lehrer, Freunde, und die moderne Technik. Sagt Euch: ‚Ich kann es’.“Er spendet der Schule 50.000 Euro aus seiner Stiftung. Nach etwas mehr als einer Stunde setzt sich der Konvoi in Bewegung in Richtung Frankfurter Flughafen. Er lässt eine geeinte Schule zurück, gerührte Schüler, Lehrer und Eltern, die noch Jahre von diesem Besuch zehren werden.Doch der Dalai Lama bewegt nicht nur, sondern Erlebtes bewegt auch ihn. „Hatte der kleine Junge mit den schwarzen Haaren Wut? Er hat so laut geschrien“, fragt er auf einmal, als wir im Bus am Frankfurter Flughafen zur VIP-Lounge fahren. „Nein“, sage ich, „das waren epileptische Krämpfe.“ Er wird nachdenklich und in der Lounge angekommen, will er sich ausruhen.Doch 20 Minuten später ist er wieder da und setzt sich. „Im Buddhismus denken wir, dass im früheren Leben eines so kranken Menschen etwas Schlimmes vorgefallen sein muss.“ Das empfinde ich ganz anders, sage ich. Mein kranker Sohn, der sich weder bewegen noch reden könne, sei seelisch viel weiter als ich selbst. Der Dalai Lama wird nachdenklich. Es beginnt ein Dialog über die Kommunikation mit einem schwerstbehinderten Menschen, darüber, was ein Gehirn leisten kann, auch wenn es eigentlich sehr krank ist. Und wie wenig die Medizin wirklich davon verstanden hat, wie das menschliche Gehirn funktioniert.Manchmal schließt der Dalai Lama die Augen, wie er es immer tut, wenn ihn etwas bewegt. Zum Abschied drückt er seine Stirn gegen meine, nimmt mich in den Arm. Und ich weiß, dass ich ihn danach genauso beseelt ansehe, wie viele Menschen, über die ich in den vergangenen Tagen geschmunzelt habe.


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