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Richtige Herren – Ludovic Roubaudis Zirkusroman «Der Hund von Balard» Mit seinen Erinnerungen kann ein Schriftsteller alles Mögliche anstellen. Ist er eher Paranoiker, kommt ihm alles bezeichnend vor. Selbst so unwichtige Details wie ein in einen Tee getunktes Gebäck treten in einen Grosszusammenhang, in dem das Leben zur ästhetischen Verschwörung wird so weit bekanntlich Proust. Ist er aber eher Hysteriker, dann nützt auch das aufsässigste Symbol nichts, dann ist das Leben ein blödsinniger Spiessrutenlauf. «Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt», fasst Thomas Bernhard zähneknirschend zusammen. Metaphorische Collage und deprimierendes Durcheinander: zwei Erzählhaltungen, wie sie in der gehobenen Literatur üblich sind. An den Rändern der Kunst aber, wo die Literatur in den Journalismus abfliesst, dort, wo der Autor verdeckt wird vom Lauf der Ereignisse, gibt es eine dritte Form das Dokumentarische. Der Dokumentarist nimmt sich vom Paranoiker den Willen zum Zusammenhang, vom Hysteriker den chronologischen Zufall. Der Dokumentarist ist auf Sinn aus aber unter minimalen Eingriffen in die Abfolge des Vorgefundenen. Eine mühsame Position. Dokumentarische Texte sind erzählerisch meist unbefriedigend: Es gibt weder die Erlösung noch das endgültige, fiese Verrecken. Irgendwo beginnt die Geschichte, irgendwo bricht sie wieder ab. Was dazwischen liegt, wird einfach erzählt, besser oder schlechter. Nicht der Stil, sondern die Kenntnis sichert dem Dokumentaristen die Leser. Ludovic Roubaudi gehört zu dieser dritten Gruppe. Selber lange Zeit beim Zirkus tätig, hat er einen Roman «Der Hund von Balard» über eine Handvoll versoffener, verlumpter Zeltbauer in der Pariser Banlieue geschrieben. Masten müssen aufgerichtet, Stahlseile gespannt werden, oft nachts und im Akkord. Der grösste Teil des Buchs handelt ausschliesslich von einer Arbeit, die man auf Dauer nur unter Alkohol und andern Drogen erträgt. Zeltbauer, erklärt Roubaudi, «gehören» zu einem Zelt wie die Leibeigenen zu einem Stück Boden: «Wir schuften im Hintergrund, damit alles klappt.» Zwischen den Arbeitern, die sich aus ehemaligen Clochards, Matrosen und sonstig Gescheiterten rekrutieren, herrscht raue Kameradschaft; ihr Chef Marco nimmt auch einmal die Peitsche in die Hand, um für Ruhe zu sorgen. Untermischt ist das Ganze mit Ganovengeschichten, mit technischen Details, Rückblenden, Säuferszenen dem unsentimentalen Allerlei einer «Zirkus» genannten Schattenwirtschaft. Grandiose Dressurnummer Das ist von Beginn weg hinreissend, auch weil es mit den idiotischen Manegenklischees aufräumt, die seit je umgehen. Roubaudis Protagonisten sind nicht die Hellsten, nicht die Gewandtesten, sie sind vor allem nicht die Schönsten; sie sind «schwarz vor Dreck» und riechen so unangenehm, dass sie sogar im Gedränge der Pariser Métro einen Sitzplatz finden. An ihrem Zustand haben sie nichts auszusetzen: «Wir waren unter uns, und wir hatten das Gefühl, frei zu sein.» Erst als ihnen ein begabter Strassenköter zuläuft der titelgebende Hund von Balard und als Hauptattraktion zur Gründung eines eigenen kleinen Zirkus verhilft, mischt sich das Phantastische oder, sagen wir: die Hoffnung in ihr Leben. Denn bei dem Hund handelt es sich, wie ein alter Dresseur die Zeltbauer aufklärt, um ein «Subjekt»: eines jener seltenen Tiere, die die Absichten des Dresseurs intuitiv verstehen und deshalb zu der grandiosesten aller Darbietungen fähig sind, dem «Schlappsack». Was genau das ist, wird bis zur ersten Vorführung am Ende des Buchs geheim gehalten, der wahrscheinlich irrsten Szene aller Tiergeschichten überhaupt. «Sogar den Deutschen verschlug es die Sprache» mehr sei hier nicht verraten. Man hat Roubaudis mehrfach preisgekröntes Buch mit John Steinbecks sozialkritischen Romanen verglichen. Aber Roubaudis Figuren sind von Steinbeck etwa so weit entfernt wie ein Stück gebrauchte Zeltplane von einer Häkelarbeit. Roubaudi simuliert keinen Realismus. Von der Kraft seines Stoffs geradezu übermannt, fügt er Erfundenes, Dokumentarisches und irgendwo Gehörtes zu einer plappermäuligen Einheit. Während Steinbecks Helden immer ein wenig wie verkleidete Ansichten des Autors wirken, kümmern sich Roubaudis Zeltbauer keine Sekunde um die grosse Synthese. Es kommt am wenigsten auf die sogenannte Fabel an, sondern aufs Erzählen und auf die Wirklichkeit. Trotzdem ist es wohl diese Art von Geschichten, die ein sozialkritischer Realismus unter seiner Fahne gern hätte entstehen sehen. Und es ist eine Ironie der Literatur, ein Witz der Geschichte, dass sie heute, in einer kaum mehr «kritisierbaren», da planlosen Gesellschaft entstehen. Am Rand von Paris, in Balard, gleichsam am Ende der Welt. Je fremder uns die Welt begegnet, desto süchtiger sind wir danach, in ihr heimisch zu werden. Oder immerhin einen einigermassen erträglichen Platz zu finden: «Denn wenn der Hunger in einem bohrt, dann ist man zu nichts mehr fähig, kann nicht mehr denken, nicht mehr reden, ist kein Mensch mehr.» Dennoch taugt «Der Hund von Balard» nicht als Allegorie vom Aufstieg der Geknechteten. «Wir grölten vor Freude», das ist das Maximum an von Glühwein angefeuerter Entwicklung, die den Zeltbauern zuteil wird. Zum Glück. So geht das Ganze nicht ohne die nötigen Lächerlichkeiten ab, die die Wirklichkeit erst lebbar machen. «Wir, die Zeltbauer, deren Namen und Vornamen niemand kennt, wir sind nun richtige Herren geworden (. . .), und das Lustigste ist, dass wir es einem Hund zu verdanken haben», erklärt Marco in seiner Schlussansprache. Subjektwerdung an der Seite eines «Subjekts» eben, eines klugen Hundes. Das Sichtbare ist das Geheimnis Am Ende ist der Hund tot, der Zirkus wieder aufgelöst, die Zeltbauer in alle Winde verstreut. Lustig war’s, ergreifend, und was das Schwierigste ist es bleibt der Eindruck, dass ein Leben, auch wenn es dumm endet, Sinn ergibt. An jedem einzelnen Tag, einfach, weil es geschieht. «Gibt es denn nichts, wovon ihr träumt?», fragt Marco, ebenfalls kurz vor dem Ende, seine Zeltbauer. «Doch», antworten sie, «vom Zirkus.» Darüber hinaus zu denken, das wissen die Zeltbauer und ihr Chronist Roubaudi, lohnt nicht. Roubaudis Figuren leben so, wie ihr Autor schreibt: von der Hand in den Mund. Die Lektion, wenn es eine geben soll, ist einfach. Im Leben gibt es keine ästhetischen Verschwörungen, die der Paranoiker aufzudecken, es gibt auch keinen Leerlauf, den der Hysteriker zu beklagen hätte. Das Geheimnis im Leben ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare. Thomas Bernhards Maxime jedenfalls wird widerlegt: Alles ist wertvoll, wenn man an den Tod denkt. Auch das Geringste. Ein Köter kann uns erlösen. Man wünscht sich mehr solche Bücher. Milo Rau
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