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Von alten Stofftieren und Lumpenpuppen Ein schräger Blick auf die menschliche Typologie Wie fühlen sich ein Teddybär und ein schief genähter Stoffhund, wenn sie eines Tages in einem Pappkarton auf einem verstaubten Dachboden (wieder) zum Leben erwachen? «Mein Arm tun weh», piepst der Hund. «Das geht vorüber», antwortet der Bär. Und plötzlich kommen Zweifel auf: Alfred, der Bär, weiss zwar, dass in seiner Familie fast alle Alfred heissen, aber es fällt ihm nicht ein, warum. «Früher war Papa Heuss», erinnert sich Alfred dann, doch der Hund Samuel kann mit den Worten gar nichts anfangen: «Ist FRÜHER dasselbe wie Papa Heuss?» Die Lösung für die Sprach- und Erinnerungsverwirrung ist ebenso einleuchtend, wie sie dem menschlichen Erfahrungshorizont fremd ist: Die beiden ganz offensichtlich schon abgenutzten Kuscheltiere haben nämlich lange geschlafen. Und jetzt wissen sie nicht mehr viel. Mit den vergangenen Zeiten sind den beiden auch ihre Erinnerungen abhanden gekommen. Nun kehren zwar letztere Stück für Stück wieder zurück zuerst die Wörter, dann die damit verbundenen Gefühle und schliesslich auch die Bilder , die Vergangenheit selbst jedoch bleibt verschwunden. Und so machen sich die zwei auf in Richtung Süden, wo sie das «Früher» in Form jenes kleinen Jungen zu finden hoffen, der sie einst so sehr geliebt und jeden Abend mit ins Bett genommen hat damals, als Papa Heuss das Land regierte . . . Zeitlos und doch veraltet «Alfred der Bär und Samuel der Hund steigen aus dem Pappkarton» nennt der Norweger Ragnar Hovland seine Geschichte von den beiden Stofftieren, deren Anthropomorphisierung gerade so weit geht, dass das Erkunden der verbleibenden Unterschiede zu einer spannenden Exkursion wird. Denn Stofftiere, so kann man dabei entdecken, können nicht frieren, weinen oder essen wobei sich die beiden Protagonisten dessen selber nicht so ganz sicher sind, bekommen sie doch zwischendurch schrecklich Hunger , aber sie können sprechen, gehen, Schmerzen spüren, glücklich sein und auch sterben. Sie sind ohne Alter, zeitlos irgendwie, und doch sind sie veraltet, stammen aus einer anderen Zeit. Das menschliche Mass zur Festlegung des Normalzustandes eines Lebewesens kann nicht auf sie angewandt werden. Sie leben unter Menschen, und doch übersteigen sie spielend unseren starren Erlebnishorizont und fallen aus unserem festen Zeitsystem heraus. Ganz ohne technische Tricks, ohne «science» in der «fiction». Interessiert und geduldig verfolgt man beim Lesen das einem stotternden Slow-motion-Effekt ähnliche Wiederauftauchen der Erinnerungsteile, die sich in und neben der eigentlichen Handlung (der abenteuerlichen Reise) zu einem Puzzle zusammenfügen. Und gerade die Schwierigkeit, das Denken und Fühlen der Protagonisten nachzuvollziehen (was ist es für ein Gefühl, wenn einem nicht kalt sein kann?), macht die Geschichte so prickelnd und aufregend. Verstärkt wird dies noch durch die scharfkonturigen, stimmungsgeladenen Farbillustrationen von Peter Schössow . Eine fast normale Familie Dass man das menschliche Dasein besser begreifen kann, wenn man sich mit Figuren auseinandersetzt, die zwar lebendig sind, denen jedoch einige wesentliche Merkmale zum Menschsein fehlen, das kann man auch anhand einer fünfteiligen englischen Romanserie für grössere (bis grosse) Kinder erfahren, von welcher bereits zwei Bände in deutscher Sprache erschienen sind: «Die Mennyms» von Sylvia Waugh. Die Mennyms sind eine ganz normale Familie mit Grossmutter, Grossvater, Eltern und fünf Kindern. Sie wohnen in einer englischen Kleinstadt, in einem grossen, alten Haus und das bereits seit vierzig Jahren. Doch die Mennyms haben ein Geheimnis, das niemand ausser ihnen kennt: Sie sind keine Menschen, sondern Lumpenpuppen. Sie haben weder Hunger noch Durst, sie kennen keinen Schmerz, doch sie können denken und fühlen und alles, was damit unweigerlich verbunden ist: sprechen, träumen, streiten, sich ärgern, sich freuen, beleidigt sein, traurig sein. Wie Menschen eben. Vor den echten Menschen jedoch sind sie auf der Hut. Sie wissen genau, dass der Anblick einer lebenden Lumpenpuppe (mit gläsernen Knopfaugen!) einen Menschen zu Tode erschrecken könnte. Einmal entdeckt, würden sie zu Monstern gestempelt, zu gefährlichen oder erforschungswürdigen Kreaturen auf jeden Fall hätten die Mennyms keine ruhige Minute mehr. So leben sie unter ihnen, bewegen sich im Stadtgetümmel (raffiniert verhüllt) auch hautnah zwischen ihnen, direkten Kontakt mit Menschen jedoch vermeiden sie. Das in sich gekehrte Lumpenpuppen-Familiendasein hat natürlich viele langweilige, geradezu trübsinnige Seiten: Zum einen beschränken sich die sozialen Kontakte ausschliesslich auf die Verwandtschaft, zum anderen sind alle Mennyms immer gleich alt. Seit den vierzig Jahren ihrer Existenz ist der Grossvater immer alt und unbeweglich, der Teenager immer in der Pubertät und das Baby immer ein Säugling. Zwar kann durchaus Wissen dazugewonnen werden, eine Entwicklung der Persönlichkeit aber ist nicht vorgesehen. Und an diesem Punkt beginnt die Sache interessant zu werden. Der Zusammenhang von Erinnerung und wirklich Erlebtem beispielsweise ist und bleibt (auch den Mennyms) undurchsichtig: Erwachsene und Jugendliche können sich an ihre Kindheit erinnern, die sie jedoch nie wirklich erlebt haben. Gewisse Dinge wissen sie schon «von Geburt an» auch wenn sie einen solchen biologischen Vorgang nicht kennen , wo der Briefkasten sich befindet beispielsweise. Anderes Wissen können sich die Mennyms auf menschliche Art und Weise erwerben, durch Lesen beziehungsweise Erforschen. Aufregung kann es im immergleichen Alltag nur dann geben, wenn Gefahr von aussen droht: ein Brief des im fernen Australien wohnenden Vermieters etwa, der seinen Besuch ankündigt. Das hält die Mennyms im ersten Band ihrer Geschichte ganz schön in Atem. In «Die Mennyms auf der Flucht» soll dann ihr Haus einer Schnellstrasse weichen, was die Lumpenpuppen dazu zwingt, sich wider ihre Überzeugung einem menschlichen Wesen anzuvertrauen. Dass in diesem Fall zum glücklichen Ende einige eher unsubtile übersinnliche Tricks vonnöten sind, ist zwar ärgerlich, kann jedoch nicht wirklich etwas daran ändern, dass man sie ganz einfach lieben muss, diese eigensinnigen, in ihrer Unveränderlichkeit ach so menschlichen Lumpenpuppen. Gerda Wurzenberger
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