Die Zauberberg-Theorie?
Sonntag, 4. April 2010, 11:45
Abgelegt unter: Berge

„Und das Leben für sein Teil? War es vielleicht nur eine infektiöse Erkrankung der Materie, ‑ wie das, was man die Urzeugung der Materie nennen durfte, vielleicht nur Krankheit, eine Reizwucherung des Immateriellen war? Der anfänglichste Schritt zum Bösen, zur Lust und zum Tode war zweifellos da anzusetzen, wo, hervorgerufen durch den Kitzel einer unbekannten Infiltration, jene erste Dichtigkeitszunahme des Geistigen, jene pathologisch üppige Wucherung seines Gewebes sich vollzog, die, halb Vergnügen, halb Abwehr, die früheste Vorstufe des Substantiellen, den Obergang des Unstofflichen zum Stofflichen bildete. Das war der Sündenfall. Die zweite Urzeugung, die Geburt des Organischen aus dem Unorganischen, war nur noch eine schlimme Steigerung der Körperlichkeit zum Bewußtsein, wie die Krankheit des Organismus eine rauschhafte Steigerung und ungesittete Überbetonung seiner Körperlichkeit war ‑: nur noch ein Folgeschritt war das Leben auf dem Abenteuerpfade des unehrbar gewordenen Geistes, Schamwärmereflex der zur Fühlsamkeit geweckten Materie, die für den Erwecker aufnahmelustig gewesen war…“
Das ist ein Zitat aus dem Zauberberg von Thomas Mann, den das ich echt klasse finde. Was ist eure Meinung zu dieser Theorie?


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  • Tripolin sagt:

    Das Schöne an dem Zitat ist – unter anderem – die Frageform, in der es beginnt. Es handelt sich also um eine Theorie im Sinne einer Deutungsmöglichkeit, nicht im Sinne einer Doktrin. Dass seit Anbeginn alles immer schlimmer geworden ist: vom Immateriellen zum Materiellen, vom Unorganischen zum Organischen bis hin zum Geistigen – ist ein durchaus naheliegender Gedanke. Und wer ihn auch noch so exzellent formulieren kann wie eine Thomas-Mann-Figur, verleiht dem Gedanken eine beinahe unwiderstehliche Plausibilität. Es ist eine bezaubernde Rede. Und sie ist es wert, erwogen zu werden – mit oder ohne ihren Zauber. Nicht mehr und nicht weniger. Letztlich können wir nicht wissen, was das alles soll, was in dieser Welt geschieht. Und wer weiß, wozu es gut ist, dass wir darüber im Ungewissen sind! Ich denke, es ist wenigstens dazu gut, dass wir mit der überlieferten Dichtkunst ganz unterschiedliche Charaktere und Sinnentwürfe des Menschseins wertzuschätzen verstehen können. So gibt es auch eine „Wilhelm-Meister-Theorie“, eine „Brüder-Karamasow-Theorie“, eine „Schloss-Theorie“ und viele andere mehr. Es braucht offenbar eine stattliche Anzahl genialer Vertreter unserer Gattung, um die Vieldeutigkeit der „Welt“ zu beschreiben. Und jede Facette kann in Versuchung führen, uns auf sie einzuschwören. Das wäre dann aber jedes Mal das Ende zumindest der Kunst – und damit des vielleicht einzigen Glücks, auf das wir uns wirklich verlassen können.



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