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Grauen und Schönheit des Verschwindens Patrick Modiano rekonstruiert und erfindet die Vergangenheit Frühling 1964, Paris: «Er», gerade 19, lernt in einem Café Patrick Jansen kennen, den Magnum-Photographen mit der Rolleiflex. Er, «ein so junger Hund», geht mit in Jansens Atelier, das bis auf drei Koffer voller Photographien verlassen ist. Jansen will weg, er spricht davon, zu verschwinden, nach Mexiko zu gehen. Als das Telefon klingelt, sagt Jansen: Sagen Sie, ich bin nicht da. Weil er nichts anderes zu tun hat, besucht er Jansen wieder. Zuerst ist da die Höflichkeit die Angst, das Schweigen zu brechen, das wie selbstverständlich von Jansen ausgeht. Dann beginnt er, die Photographien zu ordnen und aufzulisten. Er ist jetzt jeden Tag in Jansens Atelier. Gelegentlich schellt es an der Tür, klingelt das Telefon, alte Freunde Jansens: der gescheiterte Komponist Besse, der Maler Deckers, das spiritistische Ehepaar Meyendorff. Jansen, sagt er, ist nicht da; er weiss nicht, wo er ist. Manchmal ruft Jansen an, fragt, ob niemand da sei; taucht dann auf und geht wieder. Ein «Abschiedsdrink» findet statt, vage Verwicklungen künden sich an. Nach und nach arbeitet er sich durch die drei Koffer, nummeriert die Bilder, verzeichnet alles in Schreibheften: Seltsam traurige, verlassene Photographien sind es, Porträts und leere Strassen, Häuser voller Unbekannter, Jahreszahlen, Namen, Erinnerungen an nichts. «Wenn ich mich in diese Arbeit vertieft hatte», sagt er, «dann darum, weil ich mich weigere, Personen und Dinge einfach verschwinden zu lassen.» Er arbeitet bis in den ersten Sommermonat. Als die Arbeit getan ist, verschwindet Jansen. Frühling 1992, Paris: Zufällig stösst er auf eine Photographie, die Jansen von ihm gemacht hatte. Die Erinnerung an die Tage im Atelier taucht auf, die Zeiten überlagern sich. Er macht sich auf die Suche, rekonstruiert die Spuren seiner Begegnung mit dem verschwundenen Photographen, der von der Stille träumte und von jenem «natürlichen Licht», in das die verlorenen Orte des Glücks und der Sorglosigkeit getaucht wären. Mit «Ein so junger Hund» ist ein weiterer der verstörenden, gespensterhaften Romane von Patrick Modiano auf Deutsch erschienen (Jörg Aufenanger hat die Kargheit der kompliziert miteinander verwobenen Momentaufnahmen beinah wörtlich übersetzt, nur manchmal etwas abgeändert). Wieder legt Modiano die beunruhigend genaue Topographie einer halb erfundenen, halb erlebten Vergangenheit vor, wieder ist es eine Variation der wenigen Grundthemen aller seiner bisherigen Romane: Erinnerung und Vergessen, Vernichtung und Überleben Jansen wird während des Kriegs in einem Durchgangslager interniert, seine engsten Freunde sterben gewaltsam , Festhalten und Verlust der eigenen Identität in einer «Welt, die alles auslöscht». Wie in «Dora Bruder» wird die Vernichtung der Erinnerung beklagt, Geschehenes wird an dem Abwesenden und Verlorenen gemessen, das hätte geschehen können. Das Fassbare wird in besessener Kleinarbeit gesichtet und sortiert und dem Leser wie etwas Zerbrechliches, Unsicheres, vielleicht nur Eingebildetes mitgeteilt: die Tage im Atelier, die Spaziergänge in einem genauestens kartographierten Paris oder die Geschichte eines eifersüchtigen Schauspielers, der sich in Jansens Leben mischt. Modianos Prosa ist vorsichtig. Zu vollständig hat die Zeit Zeugen und Beweise verschwinden lassen, zu verfänglich sind die Zweifel an der eigenen Erinnerung. Die zunehmende Verunsicherung Jansens, sein allmähliches Verschwinden aus «Ermüdung» spiegelt sich in einer Erzählweise, die in jeder Geste, jeder Landschaft die Möglichkeit ihrer endgültigen Auslöschung wittert. Vor allem aber ist «Ein so junger Hund» ein Buch über das Schreiben und die Kunst, so wenig und so genau wie möglich zu schreiben. Wie die Photographien, die mit Jansen verschwunden sind, ist es in jenem speziellen, vagen Licht gehalten und in jener konzentrierten Zufälligkeit und Zurückhaltung «belichtet», die der Erzähler an Jansen bewundert. «Er meinte», schreibt er, «ein Photograph sei ein Nichts, er müsse verschmelzen mit dem Ort, dem Dekor, habe unsichtbar zu sein, um besser arbeiten zu können und um das wie er sagte natürliche Licht einfangen zu können.» Von diesem Ort zwischen Sichtbarkeit und Verschwinden aus schreibt Modiano in dem ihm eigenen, beharrlichen Flüsterton. Er schreibt auf, was er gesehen und gehört hat; was nicht, das erfindet er. So ist es nur konsequent, wenn die Geschichte von Jansens Verschwinden komplettiert wird vom eingebildeten Verschwinden des Erzählers selber, mitten in der Menge eines Pariser Ostermontags: «Ich verlor das Bewusstsein und ich verstand kaum noch Französisch. Es war zu Ende. Ich war nichts mehr.» Milo Rau
— Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.
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