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Was macht der Mensch im Tier? Phantastisch verpackte Tiefsinnigkeit Was wäre die Kinderliteratur ohne die Tiere? Ganze Herden von Hunden, Katzen, Hasen, aber auch Bären, Löwen, Elefanten und sonstige Wildtiere bevölkern Text- und Bildteile unzähliger Bände. In der jüngsten Produktion fasziniert aber nicht nur die biologische Vielfalt, sondern auch die Experimentierfreudigkeit der Autorinnen und Illustratoren, wenn es um die Funktionalisierung von Tierfiguren geht. Die modernen Bestiarien sind, von den Sachbüchern und den sachlich genauen, quasi artgerechten Tiererzählungen einmal abgesehen, grundsätzlich einem Prinzip verpflichtet: Sie setzen ihre tierischen Protagonisten in eine wie immer geartete Beziehung zum Menschen. Die beliebteste, weil einfachste und banalste Ausprägung dieses kinderliterarischen Prinzips findet sich in der kompletten Anthropomorphisierung ganzer Tierfamilien, die dann normale menschliche Alltagsprobleme zu lösen und simple pädagogische Wahrheiten zu vermitteln haben. Vielfach ist vom Tier selbst nur noch die spezifische Physiognomie übrig. Lebensstil und Sozialverhalten (vom aufrechten Gang über Bekleidung bis hin zum bürgerlichen Wohnzimmer) sind völlig dem menschlichen angepasst. Totale Assimilation also. Anders ist das in der guten alten Fabelwelt, wo vermeintlich typische Eigenschaften bestimmter Tiere (wie die Falschheit des Fuchses) mit der menschlichen Natur kurzgeschlossen werden und in der Folge zu Wahrheiten von sprichwörtlicher Allgemeingültigkeit gerieren. Anders ist es aber auch in der phantastischen Welt der Kinderliteratur, wo nicht nur dem Aussehen der Tiere keine Grenzen gesetzt sind, sondern auch ihren Beziehungen zum Menschen. Naturgemäss ist diese Variante die kreativste, sie gibt ihre Botschaften häufig mit viel Raffinement und Subtilität an ihre kleine und grosse Leser- bzw. Hörerschaft weiter. Einige Beispiele aus der jüngsten Produktion, die übrigens eine auffallend tierische ist, sollen einen Einblick in die Möglichkeiten dieses Genres geben. Drei Bücher drehen sich im weitesten Sinne um den menschlichen Umgang mit Tieren, drei sind ganz der Schöpfungsgeschichte gewidmet. Allen gemeinsam aber ist, dass sie mit einer sehr dezenten Anthropomorphisierung der animalischen Protagonisten arbeiten, die das fiktionale Spektrum in alle Richtungen öffnet. Ein Katzenleben Zwar begegnen wir der hemmungslosen Vermehrung der Katzen längst mit zivilisierten, sprich medizinischen Mitteln, die alte Form der Geburtenregelung durch Ertränken der jüngsten Nachkommenschaft aber ist zumindest im gesellschaftlichen Bewusstsein durchaus noch präsent. Und wenn nicht, wird es uns durch ein Bilderbuch von Friedrich Karl Waechter wieder in Erinnerung gerufen. In «Da bin ich» erzählt Waechter den Überlebenskampf eines Kätzchens, das zu einem überzähligen Wurf gehört und mit seinen beiden Geschwistern in einem Sack ins Meer geworfen wird. Von Menschen natürlich. Selbiges Kätzchen entkommt als einziges dem Katzenhai, flüchtet auf ein versunkenes Schiff, findet eine Pistole, erschiesst den Katzenhai, frisst diesen nach und nach auf, kehrt zur Wasseroberfläche zurück und ist wieder da. Waechter lässt das Kätzchen erzählen, in kurzen Sätzen, die einzeilig unter die ganz- bzw. doppelseitigen Bilder gesetzt sind. Der Text ist prägnant, dient aber nur als Leitfaden für die visuelle Ebene der Geschichte, welche die Vermenschlichung der Katzen sehr präzise einsetzt. Im Medium einer Familienphoto verführt der menschliche Gestus der Katzen am Anfang des Buches zur kompletten Identifikation. Die Falle besteht nun darin, dass im folgenden, nur farblich veränderten Bild die drei zu ertränkenden Kätzchen bereits verschwunden sind ohne dass man das beim Betrachten sofort merkt. Um so grösser ist die Betroffenheit, wenn man es registriert (vielleicht erst beim Zurückblättern). Die Menschen treten aber nicht nur als Täter in Erscheinung, als dunkle Gestalten mit maskenhaften Gesichtern. Wenn das Kätzchen aus den Tiefen des Meeres wieder auftaucht, kehrt es nämlich zu ihnen zurück. Ein wenig verwundert (so suggeriert es die Haltung der nur in Umrissen erkennbaren Figur) steht es dann zwischen skurrilen Horden nackter Sonnenbadender am Strand und hat die Lacher voll auf seiner Seite. Von den Menschen, so zeigen die immer farbiger werdenden Bilder, lässt es sich nichts mehr vormachen. Der Mensch ist dumm Die menschliche Dummheit ist der Ausgangspunkt von Luis Sepulvedas «Wie Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte» . Das schwarze Öl nämlich, das die Menschen beim Auswaschen von Tanks ins Meer schwemmen, bedeutet für viele Tiere den sicheren Tod. So auch für die Möwe Kengah, die sich mit dem letzten Schlag der verklebten Flügel auf den Balkon von Kater Zorbas rettet, wo sie schliesslich verendet nicht ohne noch eine Ei gelegt zu haben. Des Mitleids voll, verspricht Zorbas der sterbenden Möwe, sich um diese in ihren Anfängen steckende Nachkommenschaft zu kümmern. Und so heisst es für ihn bald brüten, eine Tätigkeit, die ihm eigentlich völlig gegen die Natur geht. Die schwerste Aufgabe aber steht Zorbas noch bevor. Das ausgeschlüpfte kleine Möwchen nämlich das ihn Mama nennt muss fliegen lernen. Bei Sepulveda können sich die Tiere Zorbas Freunde allesamt miteinander unterhalten. Mit den Menschen zu «miauen» allerdings ist ein Tabu, das nur in Notfällen gebrochen werden darf. Zum Beispiel, um eine Möwe zum Fliegen zu bringen. Es ist eine ebenso geschützte wie rauhe Gemeinschaft der Tiere, die der Autor entwirft. Die Schrulligkeit der einzelnen Figuren (auch der wenigen Menschen) kommt in den kraftvollen, karikaturistischen Illustrationen von Sabine Wilharm auf höchst unterhaltsame Art und Weise zur Geltung. Übrigens sind sich nicht alle Tiere in dieser Geschichte wohlgesinnt. Was sie aber zusammenschweisst, ist ihr gemeinsames Schicksal als abhängige Haustiere, das in einem klaren Kontrast steht zum Freiheitsdrang der Möwe. «Ein Schweinchen namens Kreuz-Ass» ist nicht nur der Urenkel des schlauen Hüteschweines Babe, es ist ein regelrechtes Wunder. Kreuz-Ass nämlich kann die Sprache der Menschen verstehen, nicht nur jene der anderen Tiere. Und das verschafft ihm am Hof von Bauer Tubbs eine besondere Stellung. Der einfache Bauer hat nämlich die Qualitäten seines Schweinchens erkannt und gesteht ihm mehr und mehr Freiheiten zu. Was Kreuz-Ass zu schätzen und zu nützen weiss. Wenn es sich am Ende nicht nur in Tubbs‘ Ohrensessel beim Fernsehen weiterbildet, sondern mit seinem Besitzer gar in einer Talk-Show auftritt, dann wird vor allem eines klar: Das Schwein denkt, der Mensch handelt. Nicht unbedingt vernünftig allerdings. Autor Dick King-Smith lässt sein Schwein klüger sein als die Menschen, von welchen es nur jene Eigenschaften übernimmt, die ihm sinnvoll erscheinen. Fernsehen zum Beispiel. Himmlische Probleme Er ist klein und schwarz und mager und sehr schmutzig, der «Hund mit dem gelben Herzen» , und er redet wie ein Buch in allen Fremdsprachen, die man sich vorstellen kann: kätzisch, rättisch oder aber menschlich. Jutta Richters «Geschichte vom Gegenteil» ist ein kompliziertes Konstrukt, eine Verflechtung von Erzählebenen, die auf längeres Nachsinnen angelegt ist. Denn der Hund, der einfach Hund heisst, kommt direkt aus dem paradiesischen Garten eines gewissen «G. Ott». Dieser hat sich mit seinem besten Freund Lobkowitz zerstritten, als es um die Erfindung seines Ebenbildes, des Menschen eben, ging. Seither ist G. Ott unglücklich und trübsinnig. Das wiederum konnte der Hund nicht mehr länger ansehen. Deshalb hat er sich auf die Suche nach Lobkowitz gemacht, der als versoffenes Objekt in Parks bei Wind und Sternschnuppen mit G. Ott über eine mögliche Aussöhnung zu verhandeln glaubt. Der Hund allerdings landet bei den beiden Kindern Lotta und Prinz Neumann, wo er im Schuppen von Opa Schulte übernachten kann. Wilde Kämpfe mit hinterhältigen Ratten hat er dort zu bestehen, aber er schliesst auch Freundschaft mit einer Katze und bekommt ein Halsband mit gelbem Herzen. Mit Spannung lauschen die Kinder seiner traurigen Geschichte von den Streithähnen G. Ott und Lobkowitz, und als Opa Schulte auftaucht, scheint sich plötzlich alles zum Guten zu wenden. Jutta Richter arbeitet mit Auslassungen und überlässt es den Lesern, die Geschichte von der Erschaffung der Welt, vom Anfang des Streits und von den Möglichkeiten der Versöhnung in ihr Weltbild zu integrieren. In herzzerreissend anschaulicher Weise weckt sie die Neugier für die Ursprünge unseres Seins, die sie dann samt den symbolhaften Bildern in einem diffusen, aber nicht unangenehmen Ungewissen stehen lässt. Sehr nahe an der kindlichen Selbsterfahrung angesiedelt ist «Das blaue Pferd» von Ulf Stark. Der Himmel besteht bei ihm aus der Zweierbeziehung von Gott und «dem» Engel, die sich die Zeit zu vertreiben suchen. Während Gott immerzu spielen will, um zu vergessen, dass er als erster auf der Welt weder Mutter noch Vater hat, wird dem Engel dieses immergleiche Einerlei langsam zuviel. Also lässt er sich von Gott ein Pferd erschaffen, ein blaues. Und es ist Liebe auf den ersten Blick. Überglücklich verbringen Engel und Pferd von da an jede Minute miteinander, werden ein Paar und vernachlässigen Gott. Trotzige Eifersucht macht sich deshalb in diesem breit, und eines Tages lässt er das Pferd einfach wieder verschwinden. Die Liebe des Engels aber ist so stark, dass er sein Pferd aus dem Paradies zurückholt. Das überzeugt auch den kindlichen Gott, der das glückliche Paar nun akzeptiert (als Mutter und Vater?), aber nun sehnlichst darauf wartet, selbst die Liebe kennenzulernen. In Ulf Starks Text verknüpfen sich kleinkindliche Verhaltensweisen mit sehr klaren sexuellen Motiven. Das kann gerade für erwachsene Leser phasenweise irritierend sein. Gleichzeitig aber hat das Bild eines durch und durch kindlichen Gottes, der die Ernsthaftigkeit seiner Allwissenheit in Rätselspielen zu vergessen sucht und auf eine andere Liebe als die freundschaftliche (elterliche?) wartet, einen besonderen Reiz. Anna Höglunds Bilder begleiten das himmlische Trio Gott/Engel/Pferd mit einer Art naivem Surrealismus. Als kahles Trotzköpfchen tritt einem Gott in den farblastigen Illustrationen entgegen, während der Engel neben seinen übergrossen Flügeln mit zwei neckischen Haarbüscheln wie zwei Teufelshörnchen ausgestattet ist. Der «Maruffel» ist eine Spezies, die es seit der Sintflut nicht mehr gibt. Henri van Daele jedoch hat dem ausgestorbenen Tier ein Büchlein gewidmet: Als er Noah seine Arche bauen sieht, scheint dem Maruffel einer Mischung aus Pinguin und Ente, aber mit Känguruhbeutel die Sache mit der Sintflut nicht so ganz logisch zu sein. Wenn Gott noch einmal von ganz, ganz vorne beginnen will, warum sollte er die fertigen Tiere mitnehmen? Doch so viel Überlegung ist bei Noah nicht gefragt. Der tut stur, was ihm aufgetragen wurde. Der Maruffel aber will es genau wissen, und so kommt es, wie es kommen muss. Und wenn Noah nach überstandener Sintflut nach seinem lustigen Freund Ausschau hält, ist dieser nicht mehr da. Ausgestorben. Allerhöchstens von Paläontologen rekonstruierbar, wie es der Illustrator Thé Tjong-Khing in der Zeichnung auf der letzten Seite andeutet. Dem Zweifler gehört nicht die Zukunft, oder wie hat Henri van Daele das gemeint? Gerda Wurzenberger
— Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.
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